Kleine Fluchten

Fives, Carole

Aus dem Französischen von Anne Braun

Paul Zsonlay Verlag, Wien 2021
ISBN: 978-3-552-07226-8
138 S.




Darum geht's: Die Protagonistin ist eine alleinerziehende Mutter. Ihren Namen erfährt man nicht. Sie hat einen kleinen Sohn, wohnt in einer zu teuren Wohnung in einer Stadt, in die sie wegen des Vaters des Kindes gezogen ist, in der sie keine sozialen Kontakte hat. Sie war als selbstständige Grafikerin einst sehr erfolgreich, findet nun aber kaum mehr Zeit für ihre Projekte und schlittert so nach und nach in ein finanzielles Debakel. Der Vater des Buben ist abgehauen. Immer wieder versucht sie, von den Behörden Hilfestellung zu erhalten - finanziell oder in Form eines Kinderbetreuungsplatzes. Immer wieder scheitert sie. Die Nachbarn in ihrem Wohnhaus haben ein Kind im selben Alter, wie ihr Junge, doch als sie sich mit ihnen anfreunden möchte, wird sie kalt abserviert. Tagtäglich wird ihr alles zu viel. Sie ist überfordert und bräuchte dringend eine Auszeit. Um zu arbeiten. Um Zeit für sich zu haben. Um eine Pause von der Verantwortung und den Sorgen zu haben. Eines Tages verlässt sie das Haus, als der Kleine schläft. Erst sind es nur 10 Minuten, doch diese vermeintliche freie Zeit tut so gut, dass aus den 10 Minuten mehr werden. 

"Sie denkt seit Stunden daran. (...) - sie denkt die ganze Zeit daran. 
An diesem Abend wird sie wieder ausgehen. Diesmal wird sie sich zwei Stunden genehmigen. Zwei Stunden, gerade lange genug, um zum Fluss zu gehen." (S. 73)


So geht's mir dabei: Ich war so neugierig auf dieses Buch. Als ich die ersten Rezensionen darüber gelesen habe, habe ich mich richtig geärgert über diese Protagonistin. Mir ging es wie den Menschen in den Internetforen, in denen die Protagonistin immer Hilfe sucht. Ich hatte sehr schnell ein Urteil und eine Meinung dazu. Eigentlich wollte ich es gar nicht lesen. Doch dann hat es mich doch interessiert, wie es der Frau geht, die ihr Kind nachts alleine lässt. Was an der Kindererziehung sie so sehr überfordert, dass sie diesen Schritt wagt. Schließlich habe ich zwei kleine Kinder und wollte gern wissen, wie sie an diesen drastischen Punkt gelangt ist. Und ich bin jetzt ziemlich versöhnt muss ich sagen. Denn es war zum Glück kein Buch über das permanente Selbstmitleid einer Frau, die ein Kind hat und damit nicht klar kommt. Damit kann ich nicht umgehen. Solche Charaktere hatte ich in Büchern in letzter Zeit immer wieder und ich kann es weder nachvollziehen, noch mich hineinversetzen. Aber das ist es hier nicht. 

Sie ist erschöpft, sie ist verzweifelt und sie ist überfordert. Aber nicht in erster Linie, weil sie auf ihr Kind aufpassen muss. Hinzu kommt nämlich, dass sie verlassen wurde, dass sie keinen Menschen kennt in dieser Stadt, dass sie diese aber auch nicht verlassen will, weil sie noch immer hofft, dass der Vater des Kindes wiederkommt. Aus dem selben Grund nimmt sie sich nicht sofort eine günstigere Wohnung. Außerdem scheitert sie an hochnäsigen und wenig hilfreichen Sachbearbeiter*innen in den Behörden und letztlich am System. Darüber hinaus schafft sie es nicht, zu arbeiten, weil sie als Selbstständige Ruhe bräuchte, um Projekte fertigzustellen und ab und zu einen Babysitter, um zu Meetings zu kommen. Und dass man in dieser Situation an den Rande der Erschöpfung gelangt, verstehe ich vollends. 

ABER. 😁 Ein paar Schwächen hat die Geschichte für mich dann doch. Wenn sie so erschöpft ist, muss sie dann wirklich jeden Abend das Spielzeug des Kleinen so arrangieren, dass es einladend für ihn ist, wenn er am nächsten Tag wach wird? Und warum kann ihr Vater plötzlich kommen, um aufzupassen, als der Bub etwas größer ist, vorher, in der absoluten Verzweiflung seiner Tochter, aber gar nicht? Was ist mit Tagesmüttern, einer Babysitter-Börse oder ähnlichem? Gibt es das in Frankreich nicht? Warum zahle ich einem idiotischen Kinderarzt, der mein Kind nicht einmal untersucht 60 Euro? Und welche Anwältin verlangt von einer Frau in ihrer Lage vorab 500 Euro? Das sind alles Dinge, die ich nicht sehr realistisch finde. Natürlich bin ich nicht in Frankreich und weiß nicht, wie diese ganzen Dinge dort laufen. 

Schlussendlich denke ich, dass es der Autorin darum ging, das System anzuprangern und aufzuzeigen, wohin es eine Mutter bringen kann, wenn sie von keiner Seite eine Hilfestellung erhält. Auch, dass sich Männer einfach so aus dem Staub machen können, ohne einer Verpflichtung nachkommen zu müssen, möchte sie mit ihrer Geschichte zeigen. Ich hätte es an keiner Stelle so gelesen, dass sie das Mutterglück an sich in Frage stellt, auch wenn sie natürlich von Situationen erzählt, die eine Mutter zum Verzweifeln bringen und die es zweifelsohne gibt. Und diese braucht es auch für die Geschichte. Sie kann schlecht von dem puren Mutterglück erzählen, wenn sie dann Nachts die Flucht ergreift. 

Geht's kurz und knapp? Das Buch ist kurz und man liest es sehr schnell durch. Sprachlich ist es sehr gelungen, außerdem spannend und punktet mit einem sehr überraschenden Schluss. Mir hat es nun viel besser gefallen, als ich anfangs dachte. 

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